Das Gen neu denken

Craig Holdrege: Der vergessene Kontext. Entwurf einer ganzheitlichen Genetik. 202 S., Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 1999, ISBN 3-7725-1782-X, CH Fr. 38.-

Bleibt jetzt sogar die Genetik nicht verschont vom Ganzheitlichkeits-Zeitgeist? Der Titel könnte diesen Verdacht wecken. Was Craig Holdrege, einer der führenden anthroposophischen Naturwissenschaftler der USA, hier liefert, bleibt aber einer verklärenden Rhetorik fern. Dass er gegenüber den herrschenden Bildern von der Rolle von Genen im lebendigen Organismus und auch gegenüber einer monokausal operierenden Gentechnologie skeptisch bleibt, ist zu erwarten. Interessant ist aber, wie er dabei argumentiert.

Er kritisiert eine reduktionistische Sicht auf die Vererbung und die Entwicklung, welche die Umgebung nicht mit einbezieht. Am Beispiel der erstaunlichen Plastizität der Wuchsform von Pflanzen in Abhängigkeit von den Standortbedingungen (mit den gleichen Genen) wird sehr anschaulich die Bedeutung des Kontextes gezeigt, um die Phänomene der Vererbung und der Entwicklung zu verstehen. „Wie wir einen Organismus ohne seine Umgebung nicht vollständig verstehen können, so verstehen wir auch die Gene nicht ohne den Organismus ." (17)

Das de-kontextualisierende Verfahren, welches in der Genetik vorherrscht, nennt Holdrege „object-thinking", – was in der Übersetzung vielleicht etwas missverständlich als „Gegenstandsdenken" wiedergegeben wurde. Es ist eine besondere Weise des Wahrnehmens, das auch dort „feste Umrisse" vermutet, wo Organismen eigentlich „die Qualitäten des Flüssigen" aufweisen. Zwischen Denken und Handeln sieht Holdrege einen Zusammenhang. Er warnt davor, sich der Illusion totaler Kontrolle in der Bewertung gentechnischer Projekte hinzugeben. Damit zerstört er mit Recht einige bequeme Täuschungen, lässt aber doch, wie mir scheint, zu wenig Raum offen für die Entwicklung einer gerade in seinem Sinn kontextuell erweiterten Gentechnologie.

Für die Einschätzung und das Verständnis der gegenwärtig triumphalen Erfolge feiernden Genetik liefert das sorgfältig und einfach geschriebene Buch wichtige Impulse.

Christoph Rehmann-Sutter

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